HT 2021: Comics in Deutungskämpfen des 20. Jahrhunderts

HT 2021: Comics in Deutungskämpfen des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Agnes Effland, Universität zu Köln

Als Teil eines Deutungskampfes kann es verstanden werden, dass sich den Comics diesjährig erstmals in einer eigenen Sektion auf dem Historikertag gewidmet wurde. Obwohl das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert des Bildes“ (Gerhard Paul) gelte, seien in der historischen Forschung noch nicht alle Bildmedien gleichermaßen in den Blick genommen worden, und das gelte insbesondere für den Comic. So führte SYLVIA KESPER-BIERMANN (Hamburg) in das Thema ein und formulierte als eines der Ziele der Sektion, sein Potenzial für die zeithistorische Forschung auszuloten. Weiterhin werde der Comic als Gegenstand von Deutungskämpfen und als Mittel der Visualisierung in Deutungskämpfen thematisiert, denn durch die spezifische Verbindung von Text, Bild und Symbol und sein Ansprechen auf mehreren Sinneskanälen sei er besonders geeignet, um Emotionen hervorzurufen und dadurch auch politische Positionen – und Propaganda – zu transportieren. Dennoch werde der Comic noch immer überwiegend mit Unterhaltung in Verbindung gebracht und weniger als Spiegel der Gesellschaft gesehen.

Dass er als Quellengattung ernst zu nehmen ist, inwiefern er populäre Geschichtsbilder einfängt und Analysen von Deutungshoheiten ermöglicht, verdeutlichte zunächst CHRISTINE GUNDERMANN (Köln) in ihrem Vortrag. Die Studie einer exklusiven Sammlung von über 60 biografischen Anne Frank-Comics zeigte, dass Anne Frank in erster Linie als literarische Figur heroisiert wurde und trotz ihres Status als eine der wichtigsten Zeug:innen des Holocaust vor allem als Projektionsfläche für Opferschaft und Tugend dient. Sie gilt als „inspirierendes Opfer“, und das keineswegs nur in der niederländischen oder deutschen Comiclandschaft, sondern international, wie anhand von französischen, mexikanischen, US-amerikanischen und italienischen Comics und anhand von Veröffentlichungen aus dem asiatischen Raum gezeigt wurde. Diese Darstellung in den Comics spiegelt gesellschaftliche Diskurse wider. Die Eingriffe, die in den Originaltext des Tagebuchs gemacht wurden wie das Streichen von harschen Kommentaren Anne Franks gegenüber ihrer Mutter oder von Gedanken über ihre Sexualität, bieten die Grundlage für diese infantilisierte, unschuldige Version der Anne Frank. Gerade auch die Hollywood-Adaption des Tagebuchs von 1959 prägte diese auf den folgenden Satz konzentrierte Narration: „In spite of everything, I still believe, that people are good at heart.“ Das Ende vieler der Comics vor der Deportation der Franks steht Gundermann zufolge symbolisch dafür, wie wenig die Vernichtung der Jüdinnen und Juden thematisiert werden sollte und wie sehr stattdessen der Fokus auf der Erzählung eines heldenhaften Mädchens lag, das die Hoffnung nicht verliert und trotz allem an das Gute im Menschen glaubt. Inwiefern diese „Mainstream“-Interpretationen durch Veröffentlichungen aus dem queerfeministischen Underground oder durch Horrorcomics herausgefordert wurden, wurde in der Diskussion am Ende der Sektion unter dem Aspekt „Deutungskampf oder Deutungshomogenisierung?“ erneut aufgegriffen.

Als Mittel der Visualisierung in Deutungskämpfen widmete sich KALINA KUPCZYNSKA (Lodz) polnischen Geschichtscomics zum Warschauer Aufstand, der Erhebung polnischer Soldat:innen gegen die nationalsozialistische deutsche Besatzungsmacht im Jahr 1944. Kupczynska macht drei Tendenzen im seit der Jahrtausendwende stark wachsenden Markt für Geschichtscomics in Polen aus, die sie als „Sacrum, profanum und den ,dritten Weg‘ des polnischen Geschichtscomics“ betitelt. Sie legte dar, wie zunächst analog zur staatlichen, rechtskonservativen Geschichts- und Erinnerungspolitik der frühen 2000er-Jahre, die auch als „märtyrologische Offensive“ bezeichnet wird, zunächst eine Sakralisierung des Aufstands und eine Heroisierung der Aufständischen stattfand. Die hohen Opferzahlen, die durch die Brutalität der Niederschlagung des Aufstandes zu verzeichnen waren – die Opfer in der Zivilbevölkerung werden auf bis zu 200.000 und unter den Aufständischen auf bis zu 16.000 geschätzt –, werden in diesem Diskurs dadurch legitimiert, dass die Revolte als nationale Erhebung gegen das Böse, personifiziert durch die Deutschen, inszeniert werde. Heroismus, Opferbereitschaft, nationale Tugenden und nationaler Stolz charakterisieren diese Bildgeschichten ebenso wie die Ruinenlandschaft Warschaus, die Kupcynska als ikonisch für den Warschauer Aufstand bezeichnet.

Ganz anders als die Comics dieser ersten Kategorie, in denen in düsteren Farben die Heldenfiguren gegen das Böse kämpfen, sehen die Comics der zweiten Kategorie aus. Auch ein solches Ereignis hat profane Seiten, und diese werden hier genau betrachtet: Das zentrale Thema in einem der vorgestellten Beispiele ist der Alltag der aufständischen Soldat:innen, ihre Erlebnisse und Bedürfnisse, ihre Begegnungen mit der Zivilbevölkerung, die sogar die Frage nach dem Sinn des Aufstands stellt. Es wird mit bunten Farben und einer Vielzahl an Zeichenstilen gearbeitet.

Bezüglich beider Kategorien, der Sakralisierung und der Profanisierung, stellt Kupczynska einen Zusammenhang sowohl mit der polnischen Historiographie als auch mit der Entwicklung des polnischen Comics fest. Durch Themenwahl und Perspektivierung in den Comics selbst wird eine komplexere Darstellung der Vergangenheit und ein Durchbrechen des „mythischen Banns“ angestrebt. Der „dritte Weg“ ist laut Kupczynska eine Reaktion auf den medialen Hype und die Kommerzialisierung des Warschauer Aufstands nach 2004. Die Reaktion auf das „zu viel des Aufstands“ sei ein „zu viel des Comics“: Genre, Stile, Personen – alles werde fiktionalisiert und karikiert. Die Parodie als Antwort auf die Trivialisierung: Diese These griff Kupczynska in der abschließenden Diskussion erneut auf.

MICHAEL F. SCHOLZ (Visby / Uppsala) schloss seinen Vortrag mit einem klaren Plädoyer für die Nutzung von Comics als Quellengattung an. Er befasste sich mit dem schwedischen Comicmarkt im Zweiten Weltkrieg, ging auf die Bedeutung von Comics als Artefakte des Krieges ein und bezeichnete sie gar als „Akteure im Propagandakrieg“. Die hohe Nachfrage an Comics seit den 1930er-Jahren habe den Import von internationalen, vor allem auch US-amerikanischen Comics begünstigt. Zunächst spiegelten diese internationalen Comics wie auch die nationalen Eigenproduktionen den Kriegsalltag noch ohne deutliche Propaganda-Absicht wider. Mit dem Ausbruch des Krieges entwickelte sich die Comiclandschaft jedoch zu einer Mischung aus Propaganda und Unterhaltung. Der durch das Kriegsgeschehen erschwerte Import ging mit dem bevorzugten Abdrucken nationaler Comics einher, auf die mittels Rationierung und Zensur Einfluss genommen wurde. So fand sich in den neu produzierten Historiencomics vermehrt eine Betonung nationaler Werte wie dem „schwedischen Freiheitserbe“, die das Ziel staatlicher Propaganda, die eigene Nation als Wertegemeinschaft zusammenzuhalten, abbildeten. Hier wurde auf bekannte, zum Teil auch mythische Figuren rekurriert; berühmte Gemälde wurden in Comics abgebildet – diese waren ganz klar einer einheimischen visuellen Kultur verpflichtet. Ein Wandel in der Comiclandschaft stellte Scholz infolge der Wende des Krieges 1942/43 fest: Die schwedische Regierung versuchte nun, eine gute Nachkriegspolitik mit den USA anzubahnen, Importrestriktionen wurden gelockert, es kamen einerseits wieder Comics aus den USA auf den schwedischen Markt und andererseits vermitteln auch die schwedischen Produktionen gänzlich andere Inhalte. Die klaren Freund- und Feindbilder der US-amerikanischen Propaganda erhielten Einzug, es ergab sich mancher Widerspruch zu vorher propagierten Haltungen. Eine Rückfrage gab es im Anschluss an den Vortrag zum Thema der schwierigen Quellenlage, weshalb auf die Forderung verwiesen wurde, private Archive mit mehr Unterstützung in die öffentliche Hand zu überführen.

Die Zusammenfassung von Kesper-Biermann führte den Teilnehmenden noch einmal vor Augen, welche Vielfalt an Comicstilen die drei Vorträge repräsentierten, inwiefern das Verhältnis von Staat, Privatwirtschaft, Comickonzernen, Interessengruppen und auch nationalen Geschichtserzählungen immer wieder in unterschiedlicher Hinsicht eine Rolle spielte, ebenso wie das Verhältnis von Erinnerungskultur und Comickultur. Gerade wegen des zeitlichen Fokus‘ auf den zweiten Weltkrieg komme zudem auch die Frage nach der Trivialisierung auf, die auch in der anschließend angeregt geführten Diskussion thematisiert wurde. Drei Stränge waren darin auszumachen.

Erstens wurde der Frage nachgegangen, ob die narrative Struktur der Comics immer etwas Ikonisches brauche – eine ikonische Person wie Anne Frank, ein ikonisches Ereignis wie den Warschauer Aufstand oder das Aufgreifen von ikonischem Material wie den Gemälden in den schwedischen Comics des Zweiten Weltkriegs. Gundermann zufolge sei diese Referenz auf etwas Ikonisches zwar häufig erfolgt und erfülle verschiedene Funktionen wie die Simulation von Authentizität oder die Verortung des Mediums in etablierten Kunstformen. Sie sei jedoch nicht notwendig, wie auch die neuen Entwicklungen im Comic- und vor allem Graphic Novel-Sektor zeigten, die auf personalisierte Erzählung von Unbekannten setzten. Auch Kupcynska bewertete die Frage als sehr wichtig. Im Falle des Warschauer Aufstands sei die Ruinenlandschaft das Ikonische, es seien aber auch andere Bilder in diesem Zusammenhang ikonisiert worden und damit gehe die durchaus problematische Entwicklung der Kommerzialisierung einher. Scholz verband die Thematik des Ikonischen mit dem Trend, Originalfotografien zu verwenden und der in verschiedenen Ausprägungen und in verschiedene Richtungen vorzufindenden Intermedialität, die das Medium des Comics im Wechselspiel mit anderen Formen der (Populär-)Kultur prägte.

Zweitens wurde die Frage nach der Wirkung der Comics diskutiert, die, wie aus dem Publikum festgestellt wurde, Narrationen ja nicht nur empfangen und katalysieren, sondern auch senden. An dieser Stelle wurde auch das Thema der Abbildung beziehungsweise Gestaltung der (Erinnerungs-)Kultur aufgegriffen und in Referenz auf den Titel des Historikertages diskutiert, inwiefern es in den vorgestellten Beispielen um Deutungskämpfe oder Deutungs¬homogenisierung gehe. Eine Grenze zwischen Comics und Erinnerungskultur gebe es nicht, betonte Gundermann, Comics mit historischen Inhalten seien immer Teil der Erinnerungskultur, und Kupcynska griff die Bezeichnung „Bastarde der Kultur“ (Spiegelman) auf. Diese wirkten „von unten“; Kupcynska stellte die These auf, wenn sie nicht „von unten“ kämen, werde es trivial.

Das Thema der Trivialisierung bildete den dritten Diskussionsschwerpunkt: Moralische Fragen der Zeigbarkeit von Menschenrechtsverbrechen, deren Grenzen z.B. entlang der ‚pornography of pain‘ diskutiert werden kann, wurden von Gundermann angeschnitten; Kupcynska erinnerte daran, dass eine Antwort auf die Trivialisierung die Parodie sein kann. Schließlich betonte Scholz noch einmal das kulturgestaltende Potential der Comics, weswegen ihr Studium zweifelsohne Aufschluss über historische (und) gesellschaftliche Verhältnisse gibt – wie auch dieses Panel beweist.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sylvia Kesper-Biermann (Hamburg) / Christine Gundermann (Köln)

Sylvia Kesper-Biermann (Hamburg): Einführung

Christine Gundermann (Köln): Die grafische Anne. Comics über Anne Frank zwischen Holocaustcomic, Literaturklassiker und Unterhaltung

Kalina Kupczynska (Lodz): Sacrum, profanum und der "dritte Weg" des polnischen Geschichtscomics

Michael F. Scholz (Visby / Uppsala): Die vergessene Kriegspropaganda. Der schwedische Comicmarkt im Zweiten Weltkrieg